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Friedensdienst im anderen Rom

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In Trastevere in Rom liegt das Herz von Sant’Egidio, hier laufen die Fäden eines weltumspannenden Netzes zusammen, was den Neid manches Diplomaten erregt. Von Daniel Deckers

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.05.2009 Seite 5

ROM, im Mai. Am Tag hatte es so heftig geregnet, wie es an einem Frühlingstag in Rom nur regnen kann. Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Die Einkaufswagen mit Plastikplanen bedeckt, die Hände in wollenen Handschuhen verborgen, auf dem Kopf eine blaue Mütze, so hockt Lucrezia unweit der Kirche Santa Maria Maggiore dort, wo Cecilia und Nicoletta sie vor zwei Jahren zum ersten Mal trafen: zwischen Touristeninformation und Rinnstein. Jeden Dienstag- abend machen die beiden Frauen hier ihre Runde, durchstreifen im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung das andere Rom. Ihre „Freunde“, wie die junge Lehrerin und die pensionierte Sekretärin sie nennen, erwarten sie nicht in den lauschigen Innenhöfen der sagenumwobenen Palazzi oder an reichgedeckten Tischen in schicken Trattorias. Sie leben auf der Straße. Dreimal in der Woche ist für sie die Mensa der „Gemeinschaft Sant’Egidio“ geöffnet.

In den dumpfen Baracken und seelenlosen Betonsiedlungen hatten junge Römer um den Gymnasiasten Andrea Riccardi im Jahr 1968 ihre „Dritte Welt“ entdeckt. Marx hatten sie dazu ebenso wenig gelesen wie die voluminösen Dokumente des Konzils, das gerade zu Ende gegangen war, nur die Bibel. Sie halfen, wie und wo sie konnten. Einige Jahre später fielen die angehenden Juristen, Lehrer und Sozialarbeiter in Trastevere ein und besetzten ein leerstehendes Kloster. Anlässlich eines Treffens von katholischen Laiengruppen der Diözese Rom nannten sie sich schlicht „Gemeinschaft von Sant’Egidio“, nach der barocken Kirche, in der sie zum Erstaunen der meist einfachen Bewohner des Viertels allabendlich beteten. Das war 1974. Zwölf Jahre später, am Pfingstfest 1986, wurde die Gemeinschaft durch den Päpstlichen Laienrat als „öffentlicher Verein von Gläubigen“ kirchlich anerkannt. In ihrem Statut ist der Satz zu lesen: „Die Gemeinschaft ist sich des Mysteriums bewusst, dass in den Armen Jesus der Herr gegenwärtig ist, wie es uns das Matthäusevangelium im Kapitel 25 lehrt.“

Zu ihren Freunden zählten die jungen Römer inzwischen nicht mehr nur die Kinder am Rand der Stadt, die Obdachlosen, die Alten, die Kranken. Der Jesuit Carlo Maria Martini, damals Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts, war einer der Ersten, die sich von dem Geist von Sant’Egidio anstecken ließen. Er ging einem alten Mann in der Via Moro zur Hand und feierte sonntags in einer ehemaligen Pizzeria am Stadtrand Gottesdienst. 1979 wurde Martini Erzbischof von Mailand, vier Jahre später Kardinal. Oder Valdo Vinay. Zehn Jahre lang predigte der Pfarrer der römischen Waldenser regelmäßig in Santa Maria in Trastevere – die Freundschaften mit Repräsentanten anderer Konfessionen und Religionen entwickelten sich nicht erst dann, als die Gemeinschaft das „Friedensgebet der Religionen“ eigenmächtig fortsetzte, zu dem Johannes Paul II. 1986 gegen heftigen Widerstand der Kurie nach Assisi eingeladen hatte.

Papst Johannes Paul schenkte der Gemeinschaft besondere Beachtung

Überhaupt: der Papst. Johannes Paul II. hatte schon in den ersten Monaten seines Pontifikats ein besonderes Verhältnis zu der Gemeinschaft Sant’Egidio entwickelt – und die Gemeinschaft zu ihm. „Durch Euch lerne ich meine Kirche, meine Kirche von Rom kennen“, rief er im Sommer 1979 den vierhundert Mitgliedern der Gemeinschaft zu, die ihn auf seine Einladung hin in Castel Gandolfo besuchten. Wenige Monate zuvor war der neue Papst in der römischen Vorstadtpfarrei San Francesco Saverio auf einen Kindergarten von Sant’Egidio gestoßen. Die Gemeinschaft hatte ihn dort unter dem Eindruck eines Kindes eröffnet, das von Ratten angefressen worden war.

Von Lebensverhältnissen wie diesen war nicht nur Johannes Pauls Vorgänger Paul VI. mitsamt der Kurie „weit weg“, wie sich Riccardi erinnert. Auch die Politik und die Verwaltung nahmen das „andere Rom“ kaum zur Kenntnis. Heute liegt über Rom dank des Engagements vor allem kirchlicher Gruppen – Sant’Egidio kann alleine in Rom auf mehr als 5000 Mitglieder und Förderer zählen – ein dichtes Netz an Hilfseinrichtungen aller Art.

Nirgendwo im „alten“ ist das „andere“ Rom jedoch so gegenwärtig wie in Trastevere. Hier, im alten römischen Hafenviertel, wurden schon immer die Fremden angeschwemmt: In der Antike die ersten Christen, heute mischen sich Asylbewerber aus Afghanistan mit Zigeunern aus Rumänien und Bootsflüchtlingen aus Schwarzafrika, nicht zu vergessen die immer zahlreicher werdenden Osteuropäerinnen, die in der Altenpflege oder auf der Straße binnen weniger Wochen mehr verdienen als in ihrer Heimat während eines ganzen Jahres. Die meisten Freiwilligen, die in dem Sozialzentrum der Gemeinschaft in der Via Anicia arbeiten, kamen einst selbst als Flüchtlinge nach Italien, lernten in den „Friedensschulen“ der Gemeinschaft die Landessprache und konnten mit dem Registrierungsnachweis bei der Gemeinschaft, der von den Behörden als eine Art Ausweis anerkannt wurde, in Rom Fuß fassen. Heute sind sie selbst „genti di pace“, Leute des Friedens.

In Trastevere wurden schon Friedensverträge unterzeichnet

Freilich ist nicht jeder Ausländer, den es nach Trastevere zu der Gemeinschaft zieht, rechtlos oder bedürftig. In dem mittlerweile stilvoll restaurierten Kloster rund um Sant’Egidio laufen die Fäden eines weltumspannenden Netzes von Gruppen zusammen, die sich von Rom über Italien und Deutschland bis nach Moskau und Peking, nach Moçambique und El Salvador nach einem immer gleichen Muster entwickelt haben. Der Rom-Besuch eines der ersten afrikanischen Bischöfe im Klerus von Moçambique im Jahr 1976 mündete 1992 später in das Ende des Bürgerkrieges, dem seit der Unabhängigkeit des Landes von Portugal mehr als eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Unterzeichnet wurde der Friedensvertrag in Trastevere.

Ein Beispiel von vielen: Mitglieder von Sant’Egidio haben in den vergangenen drei Jahrzehnten in vielen Krisen rund um den Globus vermittelt, mal in öffentlicher Mission, mal in geheimer Mission, mal aus eigenem Antrieb, mal auf Anregung aus dem Vatikan, mal auf Bitten einzelner Konfliktparteien. Sie waren unter den ersten Christen, die nach Albanien einreisen durften, suchten das Gespräch mit italienischen Kommunisten und algerischen Islamisten, brachten auf neutralem Boden Palästinenser und Israelis an einen Tisch, veranstalteten jüngst ein Friedenstreffen im geteilten Zypern und versuchten sich an einer Verbesserung der Beziehungen zwischen der russisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche. Nicht immer wurden ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt, nicht selten empfanden professionelle Diplomaten und Kirchenleute im Vatikan die kleine „UN“ von Trastevere als Konkurrenz. Doch nicht nur die italienischen „Profis“ um Andrea Riccardi, auch die Mitglieder der Gemeinschaft am Ort haben zumeist etwas, was anderen fehlt: Zeit, Geduld und – vor allem – Glaubwürdigkeit.

„Ich glaube nicht, dass man wie ein Fallschirmspringer vom Himmel herab in einen Krisenherd schweben und dann dort als großer Fachmann auftauchen kann und den Frieden herbeizaubert“, sagt Riccardi. In der Elfenbeinküste leben die Mitglieder der Gemeinschaft und die dem Geist von Sant’Egidio verbundenen „Leute des Friedens“, die als Mitglieder der „Bruderschaft“ nicht Christen sein müssen, wie seit Jahren mit und für die „Armen“, vor allem die Aids-Kranken und -Waisen. Als Vertreter der verfeindeten Gruppen aus der Elfenbeinküste vor zwei Jahren in Burkina Faso über einen Friedensvertrag verhandelten, waren Mitglieder von Sant’Egidio aus Italien die einzigen Europäer, die die Verhandlungen an der Seite der afrikanischen Mitglieder der Gemeinschaft in der Endphase begleiteten. Der Friede hält bis heute, ebenso der in Moçambique.

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